Allein und miteinander verbunden
Münster -Es gibt sie noch: vereinzelte Kulturveranstaltungen wie der Systemrelevanziergang vom Stadtensemble, neue Skulpturen im Wewerka-Pavillon der Kunstakademie und filmische Hörspiele bei Pinkus Müller für vereinzelte Besucher . . . Von Gerhard H. Kock
Jeder für sich. Getrennt von anderen. Doch nicht einsam und allein. Wie soll das gehen in den Zeiten der Pandemie? Eine Antwort kann sein: Gemeinsamkeit und Verbundenheit vergegenwärtigen. Die Theaterregisseurin Annette Müller gibt dieser Form von Gemeinschaft einen Raum. Das ehemalige Wohnzimmer von Pinkus Müller im Kuhviertel ist derzeit nicht bewohnt. Ein idealer Ort für die Installation „Lockdown Room 23“ der Enkelin von Pinkus Müller.
Barbara Müller (Geschäftsführerin der Traditionsbrauerei) hatte die Arbeit ihrer Schwester im Ritterhaus Museum Offenburg gesehen, war „total begeistert“, und sofort stand fest: „Das müssen wir auch in Münster zeigen.“ Ort und Zeit könnten für diese ruhige atmosphärische Arbeit passender nicht sein: Nach Voranmeldung geht der Besucher durch ein menschenleeres Kneipenviertel zur Kreuzstraße. Das Erlebnis beginnt an der Klingel „M. Müller“. Einmal drücken, die Tür öffnet sich, es geht ins erste Obergeschoss. Im Flur ist man bei Müllers zuhause: Familienfotos an der Wand, rustikale Möbel, Gemütlichkeit. Im Wohnzimmer heißt es: „Setze Dich auf einen Stuhl und schau Dich um!“
Annette Müller bereitete gerade ihre Produktion „Ab in die Zukunft“ über Zukunftsängste und Zukunftsvisionen vor, als am Freitag, dem 13. März, alles gestoppt wurde: Lockdown. Sie bat Menschen darum, wöchentlich zwei, drei Fragen rund um diese befremdliche Zeit mit Selfies zu beantworten. 23 Männer und Frauen im Alter von 15 bis 84 Jahren beteiligten sich. Die Aussagen waren derart breit und tiefgründig, dass sich Müller entschloss, aus den 160 Videos eine eigene Arbeit zu machen: „Lockdown Room“.
Die Selfie-Statements sind jetzt im Bilder-Rahmen, auf der Zeitung, auf der Wand zu sehen – Aussagen, die das Befinden, die Gefühle und Gedanken der Isolation im Sommer wiedergeben und nun wieder präsent sind: wie der sichere Ort „Zuhause“ Schutzburg und zugleich Gefängnis wird, wie Beziehungen sich ändern – es ist viel schöne Nachdenklichkeit in den Beiträgen. Und nicht nur eigene Befindlichkeit: „Was möchtest Du aus dieser Zeit mit in die Zukunft nehmen?“ „Ist der Virus ein Geschenk?“ Wird gefragt. Und die 23 antworten. Annette Müller spricht moderierende Texte. „Dieser Planet ist unser Zuhause, und dieses Zimmer ist ein Teil davon.“
Der Besucher wird in den gut 40 Minuten spielerisch zum Mitmachen aufgefordert, darf im Zimmer herumwandeln, eigene Gedanken hinterlassen. Dann muss er gehen. Das Zimmer wird gründlich gelüftet und desinfiziert. Denn dieses Theatererlebnis muss jeder für sich genießen. Getrennt von anderen. Doch nicht einsam und allein. Denn er erlebt hier Gemeinschaft in den Erlebnissen und Erinnerungen, die in diesen Tagen, Wochen, Monaten die meisten Menschen miteinander teilen. Kultur verbindet.
Wer das interaktive filmische Hörspiel ab 13. November erleben möchte, muss sich anmelden. Eintritt frei. annettemuellertheater.de
Foto und Bericht: Gerhard H. Kock. Münstersche Zeitung vom 10.11.2020