Annette Müllers mobiles und interaktives Hörtheater „Kilometer X“ ist die beste alternative Stadtführung, die man aktuell bekommen kann.
Bei der Audiotour Kilometer X der Jungen Theaterakademie müssen die jeweils zehn Teilnehmenden nach Wegweisern Ausschau halten, den über die Kopfhörer übertragenen Überlegungen und Fragen der 28 Beteiligten des Projekts und dem Guide zum nächsten Ort folgen, und Aufgaben erfüllen, die an der ein oder anderen Stelle gestellt werden: Jemanden anrufen. Eigene Lebensziele formulieren. Rennen. Einen Koffer mitnehmen. Und nicht zuletzt: sich Gedanken machen darüber, was man gehört hat.
Und immer wieder auch überlegen: Mach ich da jetzt mit oder nicht? Bin ich gleicher Meinung, oder regt sich bei mir Widerspruch gegen das Gehörte, und wenn ja, warum? Mit geringerem – aber immer noch beachtlichem – technischem Aufwand, aber mit dem gleichen hohen Anspruch verwirklichen die Junge Theaterakademie und ihre Leiterin Annette Müller hier nach „Workplace 4.0“ erneut ein Stück, das Gruppendynamik und Zuschauer-/Zuhörer-Bewegung und -beteiligung einbezieht. Nur dass diesmal nicht die riesige Fläche der Dietrich-Spedition, sondern gleich die halbe Innenstadt als Theaterraum genutzt wird. Waren bei Workplace 4.0 noch Klettergurte und Helm verteilt worden, geht es jetzt ohne weitere Sicherungsmaßnahmen ausgetretene Steinstufen hinunter oder aufs Dach einer früheren Brauerei, von dem aus der Blick weit schweifen kann.
Die Teilnehmer erleben die Stadt anders als sonst, und sie erleben zugleich, was einen Teil der Stadtgesellschaft umtreibt. Fragen zur Ökologie und zum guten Leben, zu gesellschaftlicher Teilhabe und persönlicher Verwirklichung. Die Rezensentin ist hier in einem Zweispalt. Um den weiteren Teilnehmern dieser ‚magical mystery tour‘ durch Offenburg den Spaß und die Spannung nicht zu verderben, lieber keine Orte nennen? Nicht zu viel verraten über die ästhetischen Finessen, die digitale Projektionen beinhalten und analoge Objektkästen? So mache ich es, und beschränke mich auf zentrale Aspekte des Kulturevents, das nicht nur räumlich den Rahmen des Üblichen sprengt.
Da sind die existentiellen Themen. „Was ist das Tapferste, was du je gesagt hast?“ fragt eine der vielen Stimmen im Kopfhörer, worauf eine andere antwortet: „Hilfe!“. Stimmt wohl, es verlangt viel Mut, einzugestehen, dass man Hilfe braucht. Würde ich es tun? Sollte ich es tun? Habe ich das schon getan, wenn nein, warum nicht? Während der Tour bleibt kaum Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen, doch sie lassen einen auch danach lange nicht in Ruhe.
Räume, die man noch nie betreten hat, beeindrucken
Die Einblicke, die den Teilnehmern gewährt werden, in Räume, die man noch nie betreten hat, beeindrucken. Menschen, die ihr Berufsleben auf den Kopf stellen und etwas ganz anderes machen als bisher, mit vollem Risiko. Junge Leute, die ein regelrecht liebevolles Verhältnis zu einem pittoresk abgeranzten Raum empfinden, der ihnen so viel mehr bedeutet als nur einen Ort zu haben für Partys und Konzerte. Und auch der öffentliche Raum der Stadt, die bekannten Plätze, die anders durchschritten werden als sonst. Auffälliger, beobachtender, nachdenklicher. Das alles begleitet durch musikalische Patterns, die sich der Stimmung des jeweiligen Ortes und der Thematik anpassen und sie zugleich verstärken. Zu Fuß legen die Teilnehmer von „Kilometer X“ knapp drei Kilometer zurück, gedanklich ist die Strecke viel weiter. Beides sorgt für überraschende Einblicke. Ein spannendes Theatererlebnis der anderen Art.
Badische Zeitung Juliane Eiland-Jung 6.6.2021
Foto: Wilfried Beege